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Kein Autor kommt in der Lektürephase des Lateinunterrichts so häufig und in so unterschiedlichen Kontexten vor wie Cicero. In der Mittelstufe begegnet er in den Lehrplänen etlicher Bundesländer als Meister des Wortes, der mit allen Mitteln der rhetorischen Kunst scharfe Angriffe gegen Verres, Catilina oder Marcus Antonius fährt. In seinen Briefen entdecken wir einen engagierten, aber auch verzweifelten Politiker im Kampf um die Rettung der res publica. In der Oberstufe verschieben sich die Schwerpunkte. Dort werden meist Auszüge aus Ciceros staatstheoretischen und philosophischen 28 Werken gelesen, allen voran aus De re publica, De finibus, den Tusculanae disputationes, De natura deorum und De officiis. Mit De re publica ist dabei ein Werk aus Ciceros erster Schaffensperiode nach der Rückkehr aus dem Exil vertreten, während die übrigen der genannten Bücher zu Ciceros zweiter Schaffensphase kurz vor Ende seines Lebens zählen (vgl. Stroh 2008 für eine biographische Einordnung). Cicero hat also, das erfahren unsere Schülerinnen und Schüler, zu verschiedenen Zeitpunkten eine Vielzahl philosophischer Schriften verfasst. Doch ist Cicero auch ein Philosoph – oder nur ein Philosoph in Anführungszeichen (Frisch 2020, S. 10), ein Philosophiehistoriker, Vielschreiber, Abschreiber und Übersetzer? Kann FC 1/2023 Echte Philosophie? Neue Perspektiven auf die Cicero-Lektüre in der Oberstufe man Cicero in den Kreis der Philosophen aufnehmen, und bieten uns seine philosophischen Schriften echte Philosophie, die auch heute noch etwas zu sagen hat? Analysiert man exempli gratia den aktuell noch gültigen bayerischen G8-Lehrplan für die elfte Jahrgangsstufe, dann entdeckt man, dass Cicero philosophus gemeinsam mit Senecas Epistulae morales im Themenbereich 11.1 („Vitae philosophia dux – philosophische Haltungen“) behandelt wird (vgl. Lobe 2020 für eine Einordnung). Welches Ziel soll die Cicero-Lektüre dabei erfüllen? Einerseits geht es in diesem Themenbereich darum, die Philosophie der Antike als „Wegweiserin zur Lebensbewältigung in schwierigen Situationen“1 kennenzulernen. Die Schülerinnen und Schüler sollen dazu angeregt werden, mit ihrer Hilfe über den Sinn im Leben, mögliche Lebenswege und die dahinterstehenden Wertebilder nachzudenken. Ein erstes Ziel dieses Themenbereichs liegt also im existenziellen Transfer, der dem Themenbereich seinen besonderen Reiz verleiht. Die antike Philosophie soll hier anhand von Schlüsselfragen des Menschseins einen erzieherischen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung unserer Schülerinnen und Schüler leisten. Andererseits geht es in diesem Themenbereich auch darum, den Schülerinnen und Schülern einen vertieften Überblick über die antike Philosophiegeschichte zu vermitteln. Als wichtige Stationen nennt der Lehrplan die Vorsokratiker mit „der Frage nach dem Ursprung des Seins“, dann die sokratische Wende und schließlich die hellenistischen Strömungen des Epikureismus und der Stoa, die in dieser Jahrgangsstufe einen Schwerpunkt bilden sollen. Schon dabei fällt auf, dass es sich bei diesem Überblick um griechische Themen handelt. Das Römische kommt nur am Rande vor, und FC 1/2023 zwar in der Nennung von Cicero und Seneca, mithilfe deren Werke diese beiden Globalziele erreicht werden sollen. Eine eigene römische Perspektive erscheint nicht. Vielmehr heißt es, dass „die römische Philosophie griechisches Gedankengut übernimmt“ und sich dabei vor allem für die ethischen Themen interessiert. Dieser Befund erhärtet sich, wenn man im Unterpunkt „Texte und Autoren“ weiterliest. Neben dem existenziellen Lernen, das hier noch einmal konkretisiert wird, ist es gerade die Cicero-Lektüre, anhand derer die Schülerinnen und Schüler einen Überblick über die zentralen Strömungen der griechischen Philosophie gewinnen und sie passgenau voneinander unterscheiden sollen. Cicero selbst gerät dabei nur in zweifacher Hinsicht in den Fokus: So sollen die Schülerinnen und Schüler erkennen, dass sich Cicero – Stichwort „Eklektiker“ – für keine philosophische Richtung entschieden hat, sondern je nach Thema einzelnen philosophischen Anschauungen den Vorzug gibt. Das hänge mit Ciceros Zielsetzung zusammen, die darin bestehe, seinem römischen Publikum „erstmals in lateinischer Sprache“ die griechische Philosophie näherzubringen. Der Lehrplan sieht Cicero also bestenfalls als Philosophen in Anführungszeichen; seine philosophischen Schriften erscheinen vor allem als Steinbruch, aus dem die einzelnen Blöcke der griechischen, vor allem der hellenistischen Philosophie mundgerecht herausgeschlagen werden. Eine römische Philosophie, eine eigenständige philosophische Agenda Ciceros kommt nicht in den Blick. Damit steht der bayerische G8-Lehrplan nicht allein im deutschsprachigen Raum; vielmehr lässt sich diese Art der Schwerpunktpunktsetzung in vielen anderen Lehrplänen beobachten (vgl. Frisch 2020, S. 9). Dies lässt 29 Christopher Diez sich damit erklären, dass die Lehrpläne in einer langen, vor allem deutschen Forschungstradition stehen, die sich von der Philologie über die Philosophie bis hin in die Geschichtswissenschaft erstreckt (vgl. dazu Diez 2021, S. 30-34 sowie Diez 2022). 2. Das Paradigma der älteren Forschung: Cicero als mittelmäßiger Philosophiehistoriker Diese ältere Forschungstradition wirft noch immer einen langen Schatten und beeinflusst unser Cicero-Bild. Sie lässt sich prägnant in einem Aufsatz von R. Hoyer aus dem Jahr 1898 erkennen, in dem er nach den Quellen einzelner Philosophica Ciceros fragt und unter anderem für die Analyse des zweiten Buches von De natura deorum konstatiert: Und es ist möglich, die wüste Verworrenheit Ciceros mit klarem Blicke zu durchschauen; man muss ihn nur mit einer Liebe lesen, die er eigentlich nicht verdient. Als Philologe aber sieht man durch den trüben Unverstand des römischen Dilettanten hinein in die Tiefen edler griechischer Geister. […] Dass Cicero […] wirklich nicht verstanden hat, was und wie er schrieb, werden wir für manche andere Schriften wie besonders für de nat. deor. II annehmen müssen. (Hoyer 1898, S. 39ff.) Wie durch ein Brennglas finden sich hier auf engem Raum die topisch gewordenen Einwände, die gegen den Philosophen Cicero erhoben werden: Wenn Hoyer Cicero als „römischen Dilettanten“ bezeichnet, zielt er darauf ab, dass Cicero sein Leben nicht ausschließlich der Philosophie gewidmet hat und auch keine eigene philosophische Schule begründet hat, sondern nur zu den Zeiten philosophische Werke verfasst hat, in denen er politisch kaltgestellt bzw. persönlich stark getroffen war. Cicero sei also deshalb kein Philosoph, weil die Philosophie ihm nur als Lückenfüllerin und Therapeutin diene. Hoyers 30 nächster Vorwurf, Cicero habe nicht verstanden, was er schrieb, fasst die Beobachtung zusammen, dass Cicero manche Positionen und Ansichten der hellenistischen Philosophenschulen nicht treffend, nicht nach der orthodoxen Lehre oder zumindest nicht frei von Polemik und Überzeichnung darstellt. Schließlich bleibt noch der Vorwurf, dass Cicero „nicht verstanden hat, wie er schrieb“, was zu einer „wüsten Verworrenheit“ seiner Schriften führe. Dieser Vorwurf trifft nicht die philosophische, sondern die literarische Seite von Ciceros Schriften. Bei deren Analyse haben viele philologische Untersuchungen zutage gefördert, dass die einzelnen Reden, die Cicero seinen Dialogteilnehmern in den Mund legt, ‚verworren‘ gestaltet sind: Es fänden sich in den einzelnen Reden nämlich Doppelungen, überraschende Kürzen, Lücken oder Digressionen, die den Gedankengang nachhaltig störten. Auch das Verhältnis von Rede und Gegenrede wurde kritisiert. Erinnern wir uns: In einigen Dialogen wie etwa in De finibus oder De natura deorum folgt auf jede dogmatische Rede, in der z. B. die epikureische oder stoische Position dargestellt wird, eine Gegenrede, die mögliche Schwachstellen der dogmatischen Rede aus einer „neutralen“ Warte aufzeigen soll. Die Forschung hat nun herausgearbeitet, dass manche Gegenreden nicht immer Bezug auf die Ausgangsrede nehmen, sondern Positionen angreifen, die dort gar nicht vertreten wurden. Außerdem werden manche Positionen übermäßig lang traktiert und manche hingegen kaum oder gar nicht berücksichtigt. Kurzum: Cicero gilt der älteren Forschung weder als Philosoph noch als guter Literat. Und dennoch hat sie sich lange und ausgiebig und fast schon leidenschaftlich mit Cicero beschäftigt. Denn trotz aller Schwächen hoffte man, durch Cicero einen Blick „in die Tiefen edler griechischer Geister“ zu werfen, deren Originalschriften in vielen FC 1/2023 Echte Philosophie? Neue Perspektiven auf die Cicero-Lektüre in der Oberstufe Fällen gar nicht überliefert sind. Der Philologe, so Hoyer, ist also gewissermaßen in der Lage, mit seinem philologischen Handwerkszeug die wertvollen Schätze der griechischen Philosophie zu heben, die im römischen Schlamm versteckt liegen, und diese wieder zum Strahlen zu bringen. Cicero gilt also nur als Quellenautor, der nicht um seiner selbst willen gelesen wird; das Eigentliche, das Vorbildliche und das Wertvolle ist die griechische Philosophie, die es aus ihm zu extrapolieren gilt. 3. Die Gegenargumente und Perspektiven der neueren Cicero-Forschung Die neuere Cicero-Forschung setzt sich von diesem Forschungsparadigma ab. Sie fragt vielmehr danach, was denn Ciceros eigener philosophischer Standpunkt ist (vgl. e. g. Auvray-Assayas 2006, Ehlers 2011 und Woolf 2015). In den letzten zehn Jahren wird zudem immer öfter die Frage gestellt, ob es mit Cicero, Lukrez und Seneca nicht doch auch so etwas wie eine dezidiert „römische Philosophie“ gibt (vgl. Müller 2015), auch wenn durch die römischen Denker formal keine neue Philosophenschule begründet wurde. Außerdem fragt man stärker nach Ciceros Rezipientenkreis: Welche Vorbildung hatte seine Leserschaft, wie stand sie selbst zur griechischen Philosophie – und war das wirklich alles ‚Neuland‘ für Ciceros Leserschaft? Auch die Dialogform kommt immer mehr in den Blick der neueren Forschung. Während man früher davon ausging, dass Cicero die Gattung des Dialogs vor allem deshalb gewählt hat, weil er so seine griechischen Quellen ohne größere Systematik und Ordnung in eine lockere Form gießen konnte, fragt man nun nach der hermeneutischen Funktion der Dialogform (vgl. grundlegend Süß 1952 und Görler 1974 sowie bspw. Sauer 2007 für De legibus). Welchen inneren Zusammenhang gibt FC 1/2023 es also zwischen Ciceros philosophischem Ansatz und der von ihm gewählten Gattung? Was unterscheidet diese Forscherinnen und Forscher nun vom älteren Cicero-Paradigma? Zunächst einmal betonen sie Ciceros philosophische und literarisch-rhetorische Expertise. Dass Cicero, wie Hoyer behauptete, wirklich nicht verstand, was er schrieb, erscheint schon deshalb unwahrscheinlich, weil er wie kaum ein anderer bei den führenden Vertretern der damaligen Schulen Philosophie studierte; die Belege dazu finden sich vor allem in den Proömien von De finibus und De natura deorum (vgl. dazu Diez 2021, S. 35-71). Die Stoa lernte er etwa durch Diodotos und Poseidonios kennen – und gerade mit Diodotos blieb er lange in regem Austausch, nicht zuletzt deshalb, weil er ihn im Alter in sein Haus aufnahm. So stand ihm Diodotos bis zu dessen Tod als Gesprächspartner und philosophischer Ratgeber zur Verfügung. Den Epikureismus studierte er bei den Epikureern Phaidros und Zenon und die platonische Akademie bei Philon von Larissa und Antiochos von Askalon (vgl. Frisch 2020, S. 11 mit Stellenangaben). Philon war es auch, dem sich Cicero von allen philosophischen Lehrern am nächsten fühlte und dessen Ausrichtung des philosophischen Skeptizismus ihn nachhaltig beeinflusste. Auch studierte er die hellenistische Philosophie nicht nur intensiv während seiner Griechenlandreise. Vielmehr umgab er sich zeitlebens mit philosophisch gebildeten Gesprächspartnern wie eben dem Stoiker Diodotos oder seinem Freund und Verleger Atticus, der selbst Anhänger des Epikureismus war. Auch in Tiro, seinem Sekretär, Sklaven, später Freigelassenen und engen Vertrauten, stand ihm ein philosophisch gebildeter Gesprächspartner zur Verfügung. Zudem unterstreicht O. Gigon mit Recht in dieser Hinsicht Ciceros literarisch-rhetorische Expertise. Bei jemandem wie Cicero, der 31 Christopher Diez nach jahrzehntelangem Training auch in kurzer Zeit in der Lage war, komplexe Sachverhalte in stringente und kunstfertige Reden zu gießen und der sich in Werken wie De oratore auch theoretisch mit der Redekunst beschäftigt hat, fällt es schwer zu glauben, dass ihm dies in seinen philosophischen Dialogen gar nicht gelungen sein soll (vgl. Gigon 1973). Methodisch liegt es daher nahe, die einzelnen Dialoge erst einmal als solche ernst zu nehmen und von einer bewussten literarischen Gestaltung auszugehen. Die Annahme, dass Cicero hier geschlampert hat und schludrig war, sollte am Ende einer Analyse als allerletzte Erklärungsoption stehen – und nicht etwa die Prämisse darstellen, die jede Untersuchung leitet. Mit Blick auf die ciceronischen Produktionsbedingungen gibt es zunächst also keine zwingenden Gründe, die grundsätzlich gegen Cicero als ernstzunehmenden Autor und Philosophen sprechen. 4. Cicero als skeptischer Philosoph Wenn wir nun fragen, welchen philosophischen Ansatz Cicero selbst vertreten hat, dann lohnt es sich, einen Blick ins Proömium seiner Schrift De natura deorum zu werfen (vgl. dazu ausführlicher Diez 2021, 109-128). Dort fasst er nämlich noch einmal prägnant seine eigene philosophische Position zusammen, die er in den Academica in größerer Ausführlichkeit entfaltet hatte: Non enim sumus i, quibus nihil verum esse videatur, sed i, qui omnibus veris falsa quaedam adiuncta esse dicamus tanta similitudine, ut in is nulla insit certa iudicandi et adsentiendi nota. Ex quo exsistit et illud multa esse probabilia, quae, quamquam non perciperentur, tamen, quia visum quendam haberent insignem et inlustrem, his sapientis vita regeretur.2 (Cic. nat. deor. 1,12) Cicero bekennt sich in dieser Passage zur skeptischen Philosophie. Skeptizismus bedeutet für 32 ihn allerdings nicht, grundsätzlich an allem zu zweifeln und in der Aporie zu enden, welche die Menschen handlungsunfähig zurücklassen würde. Eine radikale Skepsis, wie sie etwa Karneades und andere vertreten haben mögen, lehnt er also ab. Stattdessen gibt er sich als ein Anhänger der gemäßigten Skepsis zu erkennen, wie sie sein philosophischer Lehrer Philon von Larissa geprägt hat. Im Zentrum dieses Ansatzes steht die Suche nach dem Wahrscheinlichen (probabile oder verisimile, vgl. Fuhrer 1993 zum Begriff). Was genau bedeutet das? Cicero hält in der Nachfolge Philons an dem scharfen Gegensatz zwischen verum (Wahrheit) und falsum (Falschem) fest, der maßgeblich für die antike Philosophiegeschichte ist. Wie den anderen Philosophenschulen geht es auch ihm darum, mithilfe der Philosophie nach dem verum zu streben und das falsum als solches zu benennen und zu meiden. Im Gegensatz zu epikureischen und stoischen Ansätzen geht die gemäßigte Skepsis allerdings davon aus, dass es die Wahrheit als solche zwar gibt und dass man nach ihr suchen und streben soll, man sie letztlich aber nie zur Gänze erreichen wird. Dies liegt, wie Cicero in Academica 2,7 erklärt, einerseits an der obscuritas in ipsis rebus, also einer Unklarheit in den Dingen selbst. Hier zeigt sich das platonische Erbe der gemäßigten Skepsis. Die Wahrheit als solche ist in unserer Welt immer von falschen Eindrücken umgeben. Wir können uns also die Wahrheit wie einen geschliffenen Stein vorstellen, der von Moos und Staub bedeckt ist und um den sich andere Ablagerungen gebildet haben, die ein Erkennen des eigentlichen Steins unmöglich machen. In der Welt erscheint die Wahrheit nirgends eindeutig. Ein weiteres Problem ist die infirmitas in iudiciis nostris, also unsere eigene menschliche Unfähigkeit, die Wahrheit mithilfe unserer Sinne und unseres Verstandes sicher als FC 1/2023 Echte Philosophie? Neue Perspektiven auf die Cicero-Lektüre in der Oberstufe solche zu erkennen. Für Philon und Cicero ergibt sich daraus als Folge, dass man als Philosoph und aufgeklärter Mensch stattdessen nach dem probabile suchen soll. Das probabile ist diejenige Position, die nach rationaler Prüfung als die wahrscheinlichste aller möglichen Ansichten zu einer Fragestellung gelten kann. Auch beim probabile mag es zwar Elemente geben, die man eher dem falsum als dem verum zuordnen würde. Dennoch überwiegen hier die Eindrücke, die dem Bereich des verum zugeordnet werden können, so deutlich, dass der Weise sich auf sie verlassen kann. Das probabile wird ihm in der Folge zur handlungsleitenden Instanz. Der Weise wird dem probabile nicht vollends zustimmen (adsentiri), aber ihm doch folgen (sequi), um dadurch einen rational verantworteten Weg durchs Leben zu finden. Wenn nun das probabile das einzige ist, das einem vernünftigen Menschen Orientierung gibt, steht die Frage im Raum, woran man es erkennen und auf welchem Weg man es finden kann. Im Proömium von De natura deorum gibt Cicero seinen Rezipienten dafür epistemologische Hilfestellungen auf den Weg. Das ist einer der Gründe, der gerade das Proömium von De natura deorum so reizvoll werden lässt: Cicero legt hier nämlich nicht nur allgemein seine skeptische Philosophie noch einmal in Kurzform dar, sondern gibt seiner Leserschaft auch Lesehinweise und Hilfestellungen mit, wie sie selbst nach dem probabile suchen kann. Ein wichtiger Hinweis dazu findet sich gegen Ende des Proömiums: Quod facere is necesse est, quibus propositum est veri reperiendi causa et contra omnes philosophos et pro omnibus dicere.3 (Cic. nat. deor. 1,11) Die Grundvoraussetzung, um das probabile herauszufiltern, besteht laut Cicero also erstens darin, die Positionen aller wichtigen Philosophenschule zu einer bestimmten Fragestellung zu kennen FC 1/2023 und zweitens sie hinsichtlich ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile bewerten zu können. Letztlich beschreibt er damit genau die Struktur vieler seiner skeptischen Dialoge, beispielsweise von De finibus oder De natura deorum. Dort widmet sich Cicero jeweils einer philosophischen Teilfrage – in De finibus der Ethik, in De natura deorum der Theologie. Zu dieser philosophischen Teilfrage lässt er dann die Vertreter der jeweiligen Schule selbst zu Wort kommen, bevor er ihre Ansicht aus einer skeptischen Warte kritisieren lässt. Dieses dialektische Verfahren, das Cicero selbst als in utramque partem disserere bezeichnet, stellt also die Grundvoraussetzung dar, um das probabile zu finden. Dabei warnt Cicero seine Rezipienten jedoch vor einer Überschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten: Profecto eos ipsos, qui se aliquid certi habere arbitrantur, addubitare coget doctissimorum hominum de maxuma re tanta dissensio4 (Cic. nat. deor. 1,14). Hier und an anderen Stellen im Proömium zeigt sich Cicero zurückhaltend gegenüber Ansätzen, die allzu großes Vertrauen in ihre Erkenntnisfähigkeit setzen und einen absoluten Wahrheitsanspruch vertreten. Das energische Pochen auf bestimmte Lehrsätze, das die Grenzen der eigenen Erkenntnisfähigkeit überschreitet, kennzeichnet laut Cicero das Gegenteil von einer vernünftigen philosophischen Haltung. Immer dann, wenn der Epikureer Velleius oder vor allem der Stoiker Balbus im weiteren Verlauf des Dialogs also metaphysische Sachverhalte so darstellen, als seien sie so gewiss wie der Blick aus dem Fenster, sollten die Rezipienten von De natura deorum skeptisch werden. An diesen Stellen könne man das probabile sicher nicht finden. Neben dem allzu großen Vertrauen in die eigene Erkenntnisfähigkeit kritisiert Cicero jedoch auch das allzu große Vertrauen in Lehrmeister oder vermeintliche Vorbilder: 33 Christopher Diez Qui autem requirunt, quid quaque de re ipsi sentiamus, curiosius id faciunt, quam necesse est; non enim tam auctoritatis in disputando quam rationis momenta quaerenda sunt. Quin etiam obest plerumque iis, qui discere volunt, auctoritas eorum, qui se docere profitentur; desinunt enim suum iudicium adhibere, id habent ratum, quod ab eo, quem probant, iudicatum vident. Nec vero probare soleo id, quod de Pythagoreis accepimus, quos ferunt, si quid adfirmarent in disputando, cum ex iis quaereretur, quare ita esset, respondere solitos „ipse dixit“; ipse autem erat Pythagoras: tantum opinio praeiudicata poterat, ut etiam sine ratione valeret auctoritas.5 (Cic. nat. deor. 1,10) Für Cicero bilden also die auctoritatis momenta, das heißt die Autoritätsargumente, und die rationis momenta, das heißt die Vernunftargumente, einen scharfen Gegensatz. Sich auf externe Autoritäten zu verlassen, ungeprüften Meinungen zu folgen und blindlings die Ansichten vermeintlicher Meister nachzusprechen, ohne sie selbst verstanden zu haben oder erklären zu können, kann laut Cicero kein Weg zum probabile sein. Seiner Leserschaft werden an dieser Stelle zwei wichtige Dinge nähergebracht. Erstens: Immer, wenn die Dialogteilnehmer im folgenden Dialog Positionen vertreten, die sie selbst nicht erklären können, sondern stattdessen nur auf Meisterworte verweisen, ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sich dahinter das probabile verbirgt. Zweitens kann kein Lehrer für sich in Anspruch nehmen, das probabile ein für alle Mal und in einer für alle gültigen Weise entdeckt zu haben. Jeder Einzelne muss also seinen eigenen Verstand benutzen und für jede Fragestellung selbst nach dem probabile suchen. Auch Cicero kann nicht für sich beanspruchen, die Wahrheit gefunden zu haben; auch er hat kein Lösungsbuch, mit dessen Hilfe er seiner Leserschaft das probabile ein für alle Mal und definitiv zeigen kann. Stattdessen kann er ihnen in seinen Dialogen lediglich geeignetes Material bieten, mit dessen Hilfe seine 34 Rezipienten sich darin üben sollen, diskursiv alle Positionen nach dem probabile abzusuchen und sich somit idealiter dem verum zu nähern. Neben diesen beiden Aspekten, die man als eine erste, skeptische Leseanweisung zusammenfassen kann, findet sich im Proömium von De natura deorum eine zweite Spur. Gleich zu Beginn des Werks beschreibt Cicero das religionsphilosophische Thema des Dialogs als eine quaestio ad cognitionem animi pulcherrima, also eine Fragestellung, die sich dazu eignet, das eigene Verstehen zu trainieren. Damit bereitet er also schon zu Beginn des Proömiums die gerade vorgestellte erste Leseanweisung vor. Darüber hinaus beschreibt er sein religionsphilosophisches Thema im Anschluss auch als ad moderandam religionem necessaria. Dadurch verdeutlich Cicero, dass sich die Suche nach dem probabile nicht im luftleeren Raum abspielt. Ganz im Gegenteil: Er ermahnt seine Rezipienten durch solche und weitere Hinweise im Proömium dazu, immer die politischen und moralischen Konsequenzen zu bedenken, die die einzelnen philosophischen Positionen nach sich ziehen. Dies verdeutlicht er am Beispiel derjenigen Positionen, die von Göttern ausgehen, die nicht in das Weltgeschehen eingreifen und sich nicht von den Gebeten und Opfern der Menschen bewegen lassen. Wenn sich solch eine Position durchsetzen würde, so wäre laut Cicero zu befürchten, dass die römische Kultausübung und in der Folge auch die Wertvorstellung der pietas gefährdet wäre. Und das hätte schlimme Auswirkungen auf den Bestand des gesamten römischen Staats: Atque haut scio, an pietate adversus deos sublata fides etiam et societas generis humani et una excellentissuma virtus, iustitia, tollatur.6 (Cic. nat. deor. 1,4) Ciceros philosophische Position, sein römischer Skeptizismus, lässt sich also konden- FC 1/2023 Echte Philosophie? Neue Perspektiven auf die Cicero-Lektüre in der Oberstufe siert in diesen zwei Leseaufforderungen finden: Es geht ihm einerseits darum, dass seine Rezipienten methodisch geleitet und eigenverantwortlich das probabile herausfinden, und andererseits darum, dass sie dabei die politisch-gesellschaftlichen Folgen bedenken, die die jeweilige Position auf den römischen Staat und die römische Gesellschaft ausüben würde. Nun mag man einwenden, dass Cicero seiner römischen Leserschaft damit etwas ziemlich Anspruchsvolles zumutet. Fragen wir uns also zur Probe aufs Exempel danach, mit welchem Leserkreis Cicero gerechnet hat. Einen ersten Hinweis darauf finden wir wiederum im Proömium von De natura deorum: Complures enim Graecis institutionibus eruditi ea, quae didicerant, cum civibus suis communicare non poterant, quod illa, quae a Graecis accepissent, Latine dici posse diffiderent7 (Cic. nat. deor. 1,8). Cicero geht also von Lesern aus, die bereits ernsthaft mit griechischer Bildung in Berührung gekommen sind. Allerdings fehlt ihnen nun die Fähigkeit, darüber in ihrem römischen Sprach- und Kulturkreis angemessen sprechen zu können. Das griechische Wissen ist wie ein Fremdkörper, der unverbunden neben ihrer lateinischen Sprach- und Kulturwelt steht und daher in ihrem Alltagsleben keine rechte Funktion erfüllen kann. Dass Ciceros Ziel vor allem in der Sprachraumerschließung liegt, zeigt sich noch deutlicher in Academica 2,8f.: Nam ceteri primum ante tenentur adstricti, quam, quid esset optimum, iudicare potuerunt; deinde infirmissimo tempore aetatis aut obsecuti amico aut cuidam aut una aliquoius, quem primum audierunt, oratione capti de rebus incognitis iudicant et, ad quamcumque sunt disciplinam quasi tempestate delati, ad eam tamquam ad saxum adhaerescunt. […] Iudicaverunt aut<em> re semel audita <et> ad unius se auctoritatem contulerunt.8 An dieser Stelle wird das Profil von Ciceros intendierten Rezipienten deutlich. Cicero zielt FC 1/2023 nicht vornehmlich auf einen philosophischen Neuling ab, der mit der hellenistischen Philosophie erst noch vertraut gemacht werden muss. Vielmehr rechnet er mit Lesern, die philosophisch vorgebildet sind. Zu Ciceros Zeit avancierten philosophische Inhalte nämlich mehr und mehr zu einem kanonischen Teil des Bildungskanons für junge Römer. Dabei standen die jungen Römer allerdings vor dem Problem, dass sie das auf Griechisch und in einem griechischen Umfeld erworbene Wissen nicht in ihren eigenen kulturellen Rahmen übertragen konnten und sich, wenn überhaupt, nur mit einer einzigen philosophischen Schule näher beschäftigt haben. Bei dieser Schule, zu der ein junger Römer durch Zufall oder durch den Einfluss seiner Entourage geraten ist, bleibt er dann stehen – entweder aufgrund der auctoritas eines Meisters oder aufgrund seiner Unkenntnis der anderen Positionen, nicht jedoch aus innerer Einsicht und Überzeugung. Wenn er sich danach weiter mit der Philosophie beschäftigt, dann tut er das nur im engeren Freundeskreis zu Mußestunden, ohne größeren Konnex zu seinem römischen Alltagsleben und ohne vertiefte Kenntnis der übrigen Philosophenschulen. Mit seinen skeptischen Dialogen möchte Cicero diesen Zustand ändern. Er lädt seine römischen Mitbürger ein, sich von der Warte der Neuen Akademie aus erneut auf die Philosophie einzulassen, die relevanten philosophischen Positionen und ihre Ansätze selbstständig zu durchdenken und sie durch eine kritische und verantwortliche Prüfung in die kulturelle Sphäre Roms zu übertragen. Dadurch möchte Cicero seinen Mitbürgern dazu verhelfen, träges Wissen umzuwandeln und es zur konstruktiven Problemlösung in einer politisch und sozial turbulenten Zeit zu verwenden. Nicht philosophiehistorische Belehrung, sondern die Befähigung 35 Christopher Diez zu einer eigenständigen und verantwortlichen Urteilsbildung ist Ciceros Ziel. 5. Pe r s p e k t i v e n f ü r d i e s c h u l i s c h e Cicero-Lektüre Nimmt man dieses neue Cicero-Bild ernst, dann ergeben sich daraus für den schulischen Oberstufenunterricht mehrere Folgen. Ein erstes Lernziel könnte zunächst darin bestehen, dass die Schülerinnen und Schüler Ciceros Ansatz einer gemäßigten und politisch verantworteten Skepsis kennenlernen, ihn beschreiben und sich kritisch mit ihm auseinandersetzen (Lernziel 1). Gerade die vorgestellten Passagen aus dem Proömium von De natura deorum (vgl. auch Kuhlmann 2020 zum Bildungswert von Ciceros Religionsphilosophie) und aus den Academica bieten sich an, um Ciceros skeptischen Ansatz anhand von überschaubaren, relevanten und verständlichen Textstellen herauszuarbeiten. Dieses Lernziel ergibt sich einerseits aus fachwissenschaftlichen Gesichtspunkten. Wenn die neuere Forschung nämlich zu dem ersten Konsens gekommen ist, dass Cicero kein bloßer Philosophiehistoriker war und kein reiner Eklektiker, sondern einen eigenständigen philosophischen Ansatz verfolgt hat, liegt es nahe, ihn auch als solchen bei der Behandlung von Ciceros Philosophica ernst zu nehmen9 und Cicero nicht nur als philosophiehistorischen Steinbruch zu verwenden (vgl. Wiener 2009). Dazu treten andererseits noch weitere, pädagogisch begründete Gesichtspunkte. So bietet es sich an, sich im Sinne des existenziellen Transfers kritisch mit Ciceros philosophischem Ansatz auseinanderzusetzen und ihn mit dem heutigen Wahrheitsdiskurs zu konfrontieren. Exemplarisch kann dies an den folgenden drei Anforderungssituationen gezeigt werden, bei denen es reizvoll scheint, Ciceros philosophi- 36 schen Ansatz mit heutigen Problemstellungen ins Gespräch zu bringen. Zum einen das Stichwort „Fake News“. Nicht zuletzt durch die neuralgische Prägung des Begriffs ‚alternative facts‘ lässt sich zeigen, dass in Teilen der Öffentlichkeit die scharfe Trennung zwischen verum und falsum nicht mehr ohne Weiteres akzeptiert wird. Erinnern wir uns: Mit dem Begriff ‚alternative facts‘ hat eine Beraterin des ehemaligen US-Präsidenten versucht, falsche Angaben seines Pressesprechers zur Publikumsgröße während der Amtseinführung zu legitimieren: Er habe nicht die Unwahrheit gesagt, sondern eben ‚alternative facts‘ präsentiert. Da die Unterscheidung zwischen verum und falsum, zwischen Tatsachenwahrheiten, bloßen Meinungen und falschen Behauptungen, auch medial brüchig geworden ist, gibt es in Teilen der Öffentlichkeit eine Tendenz, überhaupt nicht mehr nach dem verum zu fragen. Gerade hier könnte Ciceros Konzept des probabile eine Möglichkeit bieten, die immer schwieriger werdende Grenzziehung zwischen verum und falsum als solche anzuerkennen und dennoch nicht die Flinte ins Korn zu werfen. Nach der Analyse von Ciceros Wegweiser, wie sich das probabile erkennen ließe, könnte man leicht mit den Schülerinnen und Schülern darüber ins Gespräch kommen, welche dieser Kriterien auch heute noch hilfreich sein könnten und welche angepasst werden müssten. Wie sähe heute eine Suche nach dem probabile aus, welcher Kriterien müsste man sich bedienen? Zum anderen verschärft sich die epistemologische Herausforderung durch die mediale Verzerrung der Wirklichkeit in den sozialen Medien. Beautyfilter, Fotoshopbearbeitung, gute Beleuchtung und die richtige Pose führen beispielsweise dazu, dass unsere Schülerinnen und Schüler auf Instagram und TikTok mit unrealistischen FC 1/2023 Echte Philosophie? Neue Perspektiven auf die Cicero-Lektüre in der Oberstufe ‚Schönheitsvorbildern‘ bombardiert werden. Auch wenn einige Influencerinnen und Influencer mittlerweile diese Mechanismen offenlegen und durch solche Bilder, die innerhalb kurzer Zeit hintereinander aufgenommen worden sind und die ein und selbe Person mal besonders schlank, mal mit Bauchansatz zeigen („not a before, not an after-Selfie“), auf die Gefahren dieses Trends hinweisen, werden unsere Schülerinnen und Schüler dennoch ständig mit solchen geschickt erzeugten Idealbildern konfrontiert, deren Wirkkraft sie sich nur schwer entziehen können. Dieses Phänomen ließe sich mit Gewinn mit Ciceros Diagnose ins Gespräch bringen, wenn er schreibt, dass die Wahrheit aufgrund der Unklarheit der Erscheinungen selbst und aufgrund unserer Schwäche, sie zu erkennen, nicht aufgedeckt werden kann. Beide Aspekte lassen sich in der Instagramisierung der jugendlichen Lebenswelt nachweisen: Ciceros unklare Erscheinungen entsprächen dabei den bearbeiteten Bildern, während die menschliche Schwäche, die Wahrheit als solche erkennen zu können, mit unserer Unfähigkeit korrespondiert, den manipulierten Bildern ihre Macht über uns zu entziehen. En passant könnte das Fach Latein dadurch auch einen Beitrag zur Medienbildung leisten, die bundesweit in den übergreifenden Bildungs- und Erziehungszielen verankert ist. Schließlich kann man auch die Frage nach der politischen Verantwortung von gesicherten Erkenntnissen stellen. Ciceros ja nicht ganz unproblematische These, dass das probabile sich nicht nur vor dem Forum der Vernunft, sondern auch des öffentlichen Wohls rechtfertigen muss, ließe sich anhand von Herausforderungen beispielsweise der Corona-Pandemie aktualisieren. Darf ein Forscher erste Erkenntnisse und Hinweise zu einem Virus öffentlich machen, auch wenn er fürchten FC 1/2023 muss, dadurch implizit zu Hamsterkäufen, Panik und öffentlichen Unruhen beizutragen? Welche möglichen Szenarien, die sich mehr im Bereich des probabile als des verum aufhalten, sollen etwa Modellierer gegenüber Politikerinnen und Politikern kommunizieren, die sie beraten sollen? Anhand solcher oder ähnlicher Fragestellungen lässt sich das von Cicero aufgeworfene Problem einer verantworteten Erkenntnistheorie diskutieren: Darf ich probabilistische Erkenntnisse zurückhalten, wenn ich denke, damit das öffentliche Wohl potenziell zu gefährden oder zumindest in Unruhe zu versetzen? Neben diesem ersten Lernziel, das sich aus fachwissenschaftlichen und pädagogischen Gründen ergibt, ließen sich noch weitere Schlussfolgerungen für die Cicero-Lektüre ziehen. Wenn man nämlich davon ausgeht, dass Cicero seine Dialoge nicht dazu geschrieben hat, um ein unkundiges Publikum zum ersten Mal über die griechische Philosophie zu informieren, sondern er stattdessen Material zur Ausbildung der Urteilsfähigkeit einer philosophisch schon vorgebildeten Leserschaft bereitstellt, sollte das berücksichtigt werden, indem diese Lesehaltung bei der Interpretation ausgewählter Texte berücksichtigt wird. Der einfachste Weg bestünde darin, durch geeignete Sachinformation den Schülerinnen und Schülern das nötige philosophische Hintergrundwissen zum jeweiligen Text schon im Vorfeld im Sinne eines „Advance organizers“ (Wahl 2013, S. 97-102 sowie S. 146-161) zur Verfügung zu stellen und die spätere Interpretation dadurch zu entlasten. Die Analyse des Cicero-Textes stünde dann nicht mehr unter der Perspektive, aus ihm das epikureische Freundschaftsbild, das stoische Götterbild, die akademische Begründung des Gemeinwohls oder ähnliches herauszuarbeiten, sondern zu analysieren, wie Cicero es seine 37 Christopher Diez Dialogredner darstellen lässt. Wie die antike Leserschaft könnte man also fragen: Wo erkennen wir besonders überzeugende Argumente, in denen das probabile aufscheint, weil der jeweilige Redner ein widerspruchsfreies, evidenzbasiertes und für die römische Lebenswelt anschlussfähiges Argument entfaltet? Und wo sind einzelne Argumente der Dialogredner von Cicero schon als kritisch bzw. schwach gezeichnet, etwa weil der Gesprächspartner selbst sie nicht begründet, nur auf Meisterworte verweist, scharfe Polemik einsetzt oder die eigene Erkenntnisfähigkeit überstrapaziert? Dabei darf nicht übersehen werden, dass bei Cicero Rede u n d Gegenrede im Dienst der Urteilsbildung stehen: Überall, auch in den Gegenreden, ist mit unterschiedlichen Plausibilitätsgraden zu rechnen. Auch die skeptische Gegenrede ist also nicht das Lösungsbuch, auch hier findet sich nicht das probabile in Reinform, auch hier müssen die Rezipienten wachsam prüfen. Die Schülerinnen und Schüler werden durch einen solchen Interpretationsansatz in die Lage versetzt, den Zusammenhang zwischen Ciceros Skeptizismus und der Dialogform seiner Werke zu erklären und vor diesem Hintergrund ausgewählte Passagen aus seinen Philosophica zu interpretieren (Lernziel 2). Um dieses letzte Lernziel mit einem abschließenden Beispiel zu erläutern, bieten sich wiederum Passagen aus De natura deorum an. So lassen sich die unterschiedlichen Plausibilitätsgrade beispielweise in der Rede des Epikureers Velleius im ersten Buch von De natura deorum nachweisen. Ganz orthodox begründen die Epikureer normalerweise die Existenz der Götter damit, dass die Menschen eine atomistisch vermittelte Vorstellung von den Göttern haben (vgl. Essler 2011 zur epikureischen Theologie). Diese Vorstellung resultiere daraus, dass die 38 feinen Götteratome vor allem im Schlaf auf die Menschen einströmten. Deshalb hätten die Menschen eine klare Vorstellung von der Existenz, dem Aussehen und den Eigenschaften der Götter, ohne sie selbst direkt gesehen zu haben. Cicero lässt Velleius hingegen die Existenz der Götter einerseits mit dem consensus omnium-Argument begründen, das in stark verkürzter Form lautet: Das, was alle Menschen glauben, muss wahr sein (Cic. nat. deor. 1,44f.). Außerdem schließen sich bei Velleius Argumentationsformen, beispielsweise mithilfe des Kettenschlusses an, die die epikureische Göttervorstellung allgemein-rational begründen (Cic. nat. deor. 1,46ff.). Indem Cicero hier auf den leicht zu widerlegenden atomistischen Beweis verzichtet, der gerade für antike Leser den Charakter einer wenig glaubwürdigen Notlösung hat, stärkt er den Auftakt der Velleius-Rede und verleiht ihr epistemologische Plausibilität. Wenn Velleius allerdings im Anschluss daran begründen möchte, wieso die Götter ausgerechnet eine menschliche Gestalt besitzen und wie sie von den Menschen wahrgenommen werden können, flüchtet er sich im berühmten quasi corpus-Kapitel etwa in die bloße Zitation von Meisterworten und epikureischer Fachtermini, die nicht weiter erklärt werden (Cic. nat. deor. 1,49ff.) – Inszenierungstechniken, die wenig allgemeine Plausibilität für sich beanspruchen können. Wenn Cotta als skeptischer Gegenredner sich im Anschluss daran an die Widerlegung der epikureischen Position macht, finden sich auch hier unterschiedliche Plausibilitätsgrade. So formuliert er einerseits gewichtige Einwände gegen Velleius, indem er zum Beispiel die Folgen aufzeigt, die die Idee von menschlich aussehenden Göttern nach sich zieht: Was sollten denn die Götter mit ihren Gliedmaßen anfangen? Sollen sie essen, trinken, FC 1/2023 Echte Philosophie? Neue Perspektiven auf die Cicero-Lektüre in der Oberstufe schlafen und sich sogar paaren? Umrahmt wird diese scharfsinnige Widerlegung allerdings von polemischen ad personam-Angriffen, die Cottas Überzeugungskraft an dieser Stelle merklich schwächen (Cic. nat. deor. 1,94f.). Für die fachdidaktische Forschung und die Lehrbucharbeit der nächsten Jahre bietet sich also die reizvolle Aufgabe, solche und weitere relevanten Stellen aus Ciceros Werk zu identifizieren, sie für Oberstufenschülerinnen und -schüler zu erschließen und sie anhand von geeigneten Anforderungssituationen mit der heutigen Lebenswelt ins Gespräch zu bringen. Künftige Schülerinnen und Schüler könnten Cicero auf diese Weise als einen Philosophen kennenlernen, dessen Ansatz und philosophische Methode auch für die heutige Zeit in mehrfacher Hinsicht lohnend sind und einen echten Bildungswert entfalten. Literatur: Auvray-Assayas, C. (2006): Cicéron, Paris. Diez, C. (2021): Ciceros emanzipatorische Leserführung. Studien zum Verhältnis von dialogisch-rhetorischer Inszenierung und skeptischer Philosophie in De natura deorum, Stuttgart. – (2022): Ciceros De natura deorum und die deutsche Quellenforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Überlegungen zu einer problematischen Verbindung, in: C. Diez / C. Schubert (Hg.): Zwischen Skepsis und Staatskult. Neue Perspektiven auf Ciceros De natura deorum, Stuttgart, S. 95-116. Ehlers, W.-W. (2011): Der Philosoph Cicero, Forum Classicum 54, S. 264-273. Essler, H. (2011): Glückselig und unsterblich. Epikureische Theologie bei Cicero und Philodem. Mit einer Edition von Pherc. 152/157, Kol. 8-10, Basel. Frisch, M. (2020): Cicero philosophus. Ciceros philosophische Schriften im Lateinunterricht, in: P. Kuhlmann / V. Marchetti (Hg.): Cicero als Bildungsautor der Gegenwart, Heidelberg, S. 9-33. FC 1/2023 Fuhrer, T. (1993): Der Begriff veri simile bei Cicero und Augustin, MH 16, S. 1-28. Gigon, O. (1973): Cicero und die griechische Philosophie, ANRW I.4, S. 226-261. Görler, W. (1974): Untersuchungen zu Ciceros Philosophie, Heidelberg. Hoyer, R. (1898): Quellenstudien zu Ciceros Büchern de natura deorum, de divinatione, de fato, RhM 53, S. 37-65. Kuhlmann, P. (2020): Religion und Bildung bei Cicero als Thema für den Lateinunterricht, in: Kuhlmann, P. / V. Marchetti (Hg.): Cicero als Bildungsautor der Gegenwart, Heidelberg, S. 103-123. Lobe, M. (2020): Cicero philosophus im bayerischen Gymnasium, in: P. Kuhlmann / V. Marchetti (Hg.): Cicero als Bildungsautor der Gegenwart, Heidelberg, S. 35-44. Müller, G. M. (2015): Transfer und Überbietung im Gespräch. Zur Konstruktion einer römischen Philosophie in den Dialogen Ciceros, Gymnasium 122, S. 275-301. Sauer, J. (2007): Argumentations- und Darstellungsformen im ersten Buch von Ciceros Schrift De legibus, Heidelberg. Schäublin, C. (1995): Marcus Tullius Cicero. Akademische Abhandlungen. Lucullus. Text und Übersetzung von C. Schäublin. Einleitung von A. Graeser und C. Schäublin. Anmerkungen von A. Bächli und A. Graeser, Hamburg. Stroh, W. (2008): Cicero. Redner, Staatsmann, Philosoph, München. Süß, W. (1952): Die dramatische Kunst in den philosophischen Dialogen Ciceros, Hermes 80, S. 419-436. Wahl, D. (32013): Lernumgebungen erfolgreich gestalten. Vom trägen Wissen zum kompetenten Handeln, Bad Heilbrunn. Wiener, C. (2009): Theorie und Therapie. Zur Lektüre der philosophischen Schriften von Cicero und Seneca in der elften Jahrgangsstufe, in: R. Kussl (Hg.): Lateinische Lektüre in der Oberstufe, Speyer, S. 59-90. Woolf, R. (2015): Cicero. The philosophy of a Roman Sceptic, London. Lehrplan der elften Jahrgangsstufe an bayerischen Gymnasien (G8): https://www.gym8-lehrplan. bayern.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/id_26534. html [29.12.2022]. 39 Christopher Diez Lehrplan der zwölften Jahrgangsstufe an bayerischen Gymnasien (G9): https://www.lehrplanplus. bayern.de/fachlehrplan/gymnasium/12/latein/ [29.12.2022]. Anmerkungen: 1) Hyperlinks als Quellenangabe zu den Zitaten aus dem Lehrplan finden sich bei den Literaturangaben. 2) „Ich gehöre nämlich nicht zu denjenigen Philosophen, denen es scheint, als gebe es keine Wahrheit, sondern zu denen, die sagen, dass allen wahren Erscheinungen etwas Falsches beigefügt ist und dass sich beides, Wahres und Falsches, so sehr ähneln, dass es an ihnen kein sicheres Zeichen gibt, um ein Urteil zu fällen und seine Zustimmung zu geben. Daraus folgt, dass vieles wahrscheinlich ist. Und obwohl das Wahrscheinliche nicht mit letzter Sicherheit als solches begriffen werden kann, kann dennoch das Leben des Weisen davon bestimmt werden, da es eine ziemlich deutliche und eindrückliche Vorstellung von der Wahrheit vermittelt.“ 3) „Dies zu tun [gemeint ist das Kennenlernen aller zentralen Philosophenschulen, Anm. d. Verf.] ist für diejenigen nötig, die sich vorgenommen haben, zur Wahrheitsfindung sowohl gegen alle Philosophen als auch für sie zu sprechen.“ 4) „Tatsächlich wird gerade diejenigen, die meinen, dass sie eine sichere Erkenntnis haben, die so große Uneinigkeit unter den gebildetsten Menschen hinsichtlich einer so wichtigen Angelegenheit dazu bringen, ihr sicher geglaubtes Wissen in Frage zu stellen.“ 5) „Aber diejenigen, die danach fragen, was ich selbst über jede philosophische Frage denke, fragen neugieriger nach, als es nötig ist. Bei philosophischen Diskussionen darf man nämlich nicht so sehr nach der Bedeutung der Person fragen als vielmehr nach dem Gewicht der Argumentation. Ja sogar schadet den Lernwilligen meist sogar das Ansehen derjenigen, die vorgeben, etwas zu vermitteln. Sie hören dann nämlich auf, sich ihr eigenes Urteil zu bilden, und halten das für wahr, von dem sie sehen, dass derjenige, den sie schätzen, es als wahr beurteilt hat. Auch missbillige ich für gewöhnlich das, was man über die Pythagoreer gehört hat; von ihnen heißt es, dass sie, wenn sie in einer philosophischen Diskussion einer Behauptung zustimmten und man sie fragte, warum sie ihr 40 6) 7) 8) 9) denn zustimmten, für gewöhnlich antworteten: ‚Er selbst hat es gesagt.‘ Mit ‚er selbst‘ aber war Pythagoras gemeint. So viel vermochte eine vorgefasste Meinung, dass Pythagoras‘ Ansehen sogar ohne eigene Prüfung ausreichte.“ „Und ich weiß nicht, ob nach der Beseitigung der Frömmigkeit gegenüber den Göttern nicht auch die Vertragstreue, der Zusammenhalt unter den Menschen und die eine herausragende Tugend, nämlich die Gerechtigkeit, beseitigt werden würden.“ „Denn gar nicht wenige, die in griechischen Einrichtungen unterrichtet worden waren, konnten das, was sie dort gelernt hatten, nicht mit ihren Mitbürgern teilen, weil sie bezweifelten, dass sich die Inhalte, die sie von Griechen empfangen hatten, auf Lateinisch ausdrücken ließen.“ Lateinischer Text und deutsche Übersetzung folgen Schäublin 1995: „Die andern nämlich sind erstens gebunden und sitzen fest, bevor sie auch nur in die Lage gekommen sind zu entscheiden, was das Beste sei; zweitens schließen sie sich in einem Lebensalter, dem die erforderliche Selbstständigkeit am meisten fehlt, entweder an irgendeinen Freund an, oder sie lassen sich fangen durch eine einzige Rede eines beliebigen Menschen, unter dessen Zuhörer sie zuerst geraten sind: dann entscheiden sie über Dinge, die sie nicht erkannt haben; und gegen welche Lehre auch immer sie wie von einem Sturm getrieben worden sind, daran klammern sie sich fest wie an einen Felsen. Entschieden aber haben sie sich für eine philosophische Lehre, nachdem sie sich eine Sache ein einziges Mal angehört hatten, und sie haben sich gleich der Autorität eines einzigen anvertraut.“ Der neue bayerische LehrplanPLUS für die 12. Jahrgangsstufe, die zum ersten Mal im Schuljahr 24/25 unterrichtet werden wird, eröffnet bspw. bereits eine solche Möglichkeit. In den Kompetenzerwartungen zum Lernbereich 12.1 heißt es sowohl für das grundlegende als auch für das erhöhte Anforderungsniveau: „Die Schülerinnen und Schüler weisen in Ciceros Umgang mit philosophischen Konzepten seine akademisch-skeptische Grundhaltung […] nach“. Hierin ist ein echter Fortschritt zu sehen, da Cicero zum ersten Mal um seiner selbst willen innerhalb des Philosophiekapitels erscheint. Christopher Diez FC 1/2023